21:10 Uhr. Ich saß auf Platz 71. Der Zug fuhr durch ein dunkles Nichts. Ein schattenhaftes Schwarz, wenn man so will. Es war Ende September und kalt, so kalt, wie es zu dieser Jahreszeit eben sein konnte. In einem knappen Zeitfenster von sieben Minuten war ich von Gleis acht zu Gleis zwei geeilt. Im Zug hatte ich, wie so oft, meinen Sitzplatz nicht auf Anhieb gefunden. Zweimal hatte ich den Wagon hoch und runter abgesucht. Es war eng und ich wurde zunehmend unruhig. »Mensch, wo ist Platz 71?« Aber rätseln brachte nicht viel, hatte ich kurzerhand festgestellt, also war ich nach gewonnener Erkenntnis zur Schaffnerin getrabt, sie stand auf der anderen Seite des Abteils, und hatte mir erneut den Weg durch den schmalen Gang gebahnt. Und siehe da: Er war es. Sie hatte auf den Einzelsitz am Fenster gezeigt. Ein trauriger Anblick. Allmählich stellte ich mir die Frage, wer sich bloß dieses Sitzplatz System ausgedacht hat, denn es war doch jedes Mal das gleiche Dilemma. Vielleicht mochte es in gewisser Hinsicht ein Prinzip erfüllen, doch weder ich, noch andere Fahrgäste, ihre angespannten Gesichter offenbarten ein unübersehbares Bild der Überforderung nach ihrem Einstieg, verstanden es. Wenn es überhaupt zu etwas führte, dann ausschließlich zur Verwirrung und zu aufbrausenden Gemütern. Ich hatte mich mit meinem Schicksal jedoch schnell abgefunden und machte es mir bequem. So schlimm, wie anfangs vermutet, war es gar nicht. Im Gegenteil. Obwohl ich gefühlt in Nevada saß, abgegrenzt und allein, hatte ich volle Bewegungsfreiheit und konnte ungestört meinen Aktivitäten nachgehen.

Ich hatte eine Folge Netflix geschaut, dann Musik gehört und bis eben aus Langeweile die DB Mobil Zeitschrift sporadisch durchgeblättert. »Was manche Leute so vergessen… 25.000€ in bar oder eine Violine, wieso nicht?« Ich schlug die Seiten wieder zu und packte das Magazin zurück in das Netz. Das Lesen machte mich müde. Es war ungewöhnlich still hier, fiel mir auf. Niemand sprach, keine notorischen Toilettengänger schlichen vorbei, nicht einmal das Geräusch von dumpfer Musik durch fremde Kopfhörer drang bis an meine Ohren. Als sei es ein Spiel, das ich in diesem Augenblick erfand, wahrscheinlich um meiner Müdigkeit zu entkommen oder einfach um mich gegen diese Eintönigkeit zu stellen, sah ich mich suchend nach dem Ursprung möglicher Geräuschequellen um. Schräg gegenüber saß ein junger, blonder Mann mit Brille. Nach seinem Kleidungsstil zu urteilen ein optisch klassischer Fall von Jurist. Ertappt! Ein Schubladengedanke, ich konnte es nicht leugnen. Irgendwie fühlte ich mich peinlich berührt. In diesem Moment wünschte ich, man würde Gedanken einfach so ohne Weiteres löschen können, wie gewohnt auf ‚Entfernen’ drücken und sofort ist die Gedankenwelt wieder im Reinen. Immerhin beruhigend, dass keiner außer mir davon je erfahren würde. Jedenfalls grinste er so. Nicht merkwürdig, komisch oder gar hässlich, um Gottes Willen, nein! Es hatte etwas Sympathisches und zugleich Verrücktes. Vor allem verrückt, weil er selbst bei geschlossenen Augen grinste. Wer macht das schon? Er schien zu schlafen. Ich überlegte, wie er wohl im Gericht bei ernsten Strafprozessen damit ankäme. Eventuell provokant, taktisch klug? Ein Pseudoanwalt mit Pseudo-Grins-Masche. Irgendwie mochte ich die Vorstellung. »Ob er wirklich Jurist ist?« Dann müsste ich mich wegen meines Schubladengedankens zumindest weniger schuldig fühlen. »Verdammt, gerade hat er mich durch die Spiegelung der Scheibe gesehen.« Ich musste ihn wohl permanent angestarrt haben. Wie unangenehm. »Ob man Blicke spüren kann?« Er grinste mich nun direkt an. Ich war aufgeflogen. »Noch eineinhalb Stunden«, dachte ich. »Bin ich rot geworden?« Hoffentlich nicht.

Ich lehnte meinen Kopf an das Fenster, mein Blick verlor sich in dieser nächtlichen Leere. Ich nahm die Langeweile schlussendlich hin, schloss die Augen und versuchte an nichts zu denken. »Eine unmögliche Aufgabe, denn niemand kann schließlich nicht an nichts denken«, dachte ich, und kicherte innerlich über diesen abstrusen, ungewöhnlich philosophischen Satz in meinem Kopf. »Niemand denkt nicht an nichts. Im Umkehrschluss: Jeder denkt an alles. Aber man kann doch auch nicht an alles denken«, überlegte ich, »niemals zur gleichen Zeit«. Meine Gedanken wurden zum Selbstläufer, sie überrannten meine Aufmerksamkeit. Ich hörte kaum mehr hin, (sofern das Sinn ergab) da war ich schon eingeschlafen. Es ist diese Art von Schlaf, bei dem man nichts träumte. Keine Sequenzen des Erlebten, keine fantasiereichen Bilder. Nichts. Später fragte ich mich, ob das ein Moment gewesen war, in dem ich nichts dachte und der Fall somit gelöst und ad acta gelegt werden konnte.

Auf einmal, ich spreche hier von einer wahrgenommenen Zeit, da in meinem Schlaf-Kosmos umgeben vom Nichts das Raum-Zeit Kontinuum außer Kraft gesetzt war, erklang die Lautsprecheransage und teilte die Ankunft am Zielbahnhof mit. Es war eine dunkle Stimme, ruhig, fast väterlich, als würde sie mich mit Absicht sanft wecken wollen. Verkniffen schaute ich auf, das Licht wirkte krell und stechend in meinen Augen. Ich sah mich um. Der Pseudo-Jurist war weg. »Nein, so durfte es doch nicht mit uns enden!«. Ich begann mir auszumalen, was hätte passiert sein können. Dass ich, ohne es zu bemerken, bestimmt wie er im Schlaf grinste, was ihm die völlige Genugtuung für die Daseinsberechtigung seines Splins gab. Folglich hätte dieser junge, optische Anwalt meine Anklage erfolgreich abgewendet und den Zug als Sieger unseres von mir ausgedachten, irrealen Spiels verlassen. Jetzt grinste ich tatsächlich. Gleich war es geschafft und Mainz endlich erreicht. Egal wie sehr man über das Denken nachdachte, dachte ich gerade nur an eines: Ab ins Bett, zurück ins Nichts.