Ich war überraschend pünktlich, stellte ich fest, klopfte mir im Geist stolz auf die Schulter, denn vor paar Minuten sah es kaum danach aus, als würde ich es schaffen. An alles hatte ich gedacht. Meine innere To-Do-Liste war vollständig abgehakt, ich stand bereits mit gepacktem Koffer im Hausflur. Doch dann fiel mir blitzartig mein Ladekabel ein. Ich wagte einen schnellen Blick auf das Handy, wägte kurz ab, hasste mich prompt für meine Schuhwahl, als wäre meine Vorahnung soeben bestätigt worden, und hetzte schlussendlich mit lauten, hallenden Schlägen meiner Absätze in den fünften Stock zurück. Jetzt stehe ich hier am Bahnhof, zehn Minuten später, pünktlich. Ich hatte mich am Gleis zwischen D und E positioniert in der Hoffnung, Wagen acht würde in Reichweite halten. Ein zweites Mal möchte ich die Wahl meiner Schuhe heute nicht bereuen wollen. Es war ja längst Dauerzustand, dass die Wagenreihung kaum noch dem analogen Plan entspricht. Der Hinweis auf der Anzeigetafel wunderte mich keinesfalls mehr. Ich zog meinen schwarzen Cord Rock zurecht, er schaute nur minimal unter meiner Jacke hervor. Über die „Länge“ würde sich bestimmt so manch einer echauffieren, aber mir war es egal. Ich trug ihn gern und zu kalt war er an dem Tag auch nicht, obwohl wir den 24. Dezember hatten und sogar ich, ein Sommerkind durch und durch, mir in diesem Moment nichts lieber wünschte als etwas eisige Luft um die Nase und ein bisschen Schnee.

Während ich beim Warten Löcher in den Boden starrte, lauschte ich der regen Diskussion drei älterer Damen. Sie wirkten ratlos, offenbar fuhren sie nicht oft mit dem Zug, denn sie schienen mit außerplanmäßigen Veränderungen nicht sonderlich vertraut zu sein, was mich wiederum irritierte: Wie konnte man bloß in Bezug auf die Deutsche Bahn etwas anderes erwarten? Dass auf einmal jemand neben mir stand, ein Mann, unauffällig gekleidet, mittelgroß mit Rucksack, bemerkte ich erst, als er das Ticket unmittelbar vor meinem Gesicht hielt. Wo Gleis 4 sei, fragte er mich. Sein Deutsch war mit einem Akzent untermalt, den ich nicht zuordnen konnte. Es war hier, Gleis 4, genau dieses, an dem wir standen und jeden Moment der EC115 einfahren würde. Ich nahm sein Ticket in die Hand, ein Ausdruck vom Schalter. Sehr ungewöhnlich. Fast schon eine Rarität, dachte ich, nur kaum lesbar. Ich bemühte mich das Gedruckte zu entziffern, verlor jedoch den Überblick. Aber ja, Gleis 4 sei hier, wiederholte ich. Er blieb höflich, doch er schien nicht überzeugt und dafür hatte ich Verständnis, mir hätte ich an seiner Stelle auch nicht geglaubt. Ein Glück, dass eine Mitarbeiterin der Bahn vorbeilief. Ihr Blick verriet, dass ihre Zeit begrenzt war, dennoch betonte auch sie Gleis 4, das sei dieses hier. Er atmete auf, als beinhalte ihre Antwort eine deutlich höhere Aussagekraft. Ich nahm es ihm nicht Übel.

Nach Villingen Schwellingen wolle er, ich hatte ihn nicht danach gefragt, überhaupt war ich nicht darauf eingestellt weiter Konversation zu führen. Er erzählte einfach so, wahrscheinlich aus Erleichterung, dass er Marokkaner sei, was mir nunmehr zumindest seinen Akzent erklärte. Die Lautsprecherdurchsage kündigte die Einfahrt an. Ich hielt Ausschau nach EC115,vermutlich ein unterbewusster Versuch, der Unterhaltung ein Ende zu setzen. Es nützte nichts. Er sprach weiter davon, wie oft er umsteigen müsse. In Marokko sei es ja ganz anders, dabei lächelte er höflich, doch ich verstand nicht wirklich viel von dem was er sagte, zu sehr war ich darauf konzentriert Wagen acht zu identifizieren. Da erblickte ich die Wagennummer, schätzte grob den Haltepunkt ein, überschlug im Kopf die Distanz und schlussfolgerte daraufhin, wie sehr ich mich beeilen müsste. Ich eilte los an den drei Damen vorbei. Mein Koffer war verflucht schwer und diese Schuhe, ich sah es verdammt nochmal endlich ein, waren keine gute Idee gewesen.

Die Zugtür öffnete sich. Nachdem der Schwung an Menschen ausgestiegen war, wollte ich soeben meinen Koffer hochhieven, als der Mann wie aus dem Nichts wieder vor mir stand, sein unverkennbares, höfliches Lächeln erkannte ich so gleich. Freundlich bat er mich mir helfen zu dürfen und was blieb mir in dieser Sekunde schon anderes übrig, als zu nicken und ihm dankend meinen Koffer zu überlassen. War er mir etwa gefolgt? Er hätte schließlich überall einsteigen können, eine Reservierung hatte er keine, das wusste ich genau, auf seinem Ticket gab es keinen Vermerk. Im Zug ließ ich ihm den Vortritt, grübelte allerdings weiter. Es ließ mich nicht los, aber irgendwie war es auch egal. Er setzte sich in die zweite Reihe rechts an das Fenster, hing seine Jacke auf und wandte sich hoffnungsvoll zu mir, als erwarte er irgendeine Reaktion meinerseits. Ich verstaute mein Gepäck, konstatierte meinen Gedanken gleich als Fehlinterpretation und marschierte weiter durch den schmalen Gang an ihm vorbei bis an den Tisch links. Dort war er nämlich, Sitz 76. Die nächsten zwei Stunden würde ich auf diesem Platz verweilen, also zog ich die Winterjacke aus. Einen Haken suchte ich vergeblich, weshalb ich sie letztendlich hinter mich zwischen Lehne und Rücken klemmte. Das Handy legte ich auf den Tisch, zupfte meinen Rock ordentlich und griff in meine Tasche nach meinem Buch, es war ein Diogenes, welches ich vor Tagen auf einem Bücherflohmarkt für sage und schreibe einen Euro erworben hatte. Schon länger nahm ich mir vor wieder mehr zu lesen. Es kam einfach die letzten Jahre zu kurz, ohne Zweifel. Insgeheim schämte ich mich ein wenig dafür. Gerade wollte ich es aufschlagen, da erfasste ich wieder einmal sein Gesicht einige Reihen weiter hinten auf der anderen Seite. Er grinste euphorisch, kaum zu übersehen, ja langsam machte es mich stutzig, denn wer könne bitte eine derartige Heiterkeit an den Tag legen wie er es tat, dachte ich, sowas sei doch ein Ding der Unmöglichkeit. Zeitgleich fuchtelte er wild mit seiner Hand durch die Luft, er winkte mich wohl zu sich. Wie nett, doch ich signalisierte ihm mit willkürlicher Gestik und Mimik, dass ich meinen Platz bevorzugte, woraufhin er meine Entscheidung friedfertig akzeptierte und sich saß. Ich schaute aus dem Fenster. Es lag wirklich nicht an ihm, ich bin sonst offen für neue Bekanntschaften, interessante Gespräche und all das, nur an diesem Tag war ich einfach nicht in Stimmung dafür, erst recht nicht für belanglosen Smalltalk. Der Zug rollte jetzt langsam an, ich konnte mich nun endlich voll und ganz meiner Lektüre widmen.

Zwölf Seiten und drei Perspektivwechsel später klappte ich das Buch wieder zu, hielt es fest in beiden Händen und betrachtete das Deckblatt. “Katzenzungen”. Während ich es gedankenverloren anstarrte, dachte ich sogleich an ihn, diesen viel zu freundlichen Marokkaner, der mir jetzt bestimmt spannende Geschichten von sich und seiner Heimat erzählen und mich dann nach meinem Leben ausfragen würde, wäre ich nicht konsequent geblieben. Es tat mir schon irgendwie leid, mein dermaßen distanziertes Verhalten. Hoffentlich fühlte er sich nicht vor den Kopf gestoßen, denn das wäre keinesfalls meine Absicht gewesen. Aber nun ist es wie es ist und ehrlich gesagt bereue ich meinen Entschluss auch nicht.

Nachdem das Zugabteil eine halbe Minute lang von lautstarken, orientalischen Klängen beschallt worden war, hörte ich eine männliche Stimme den Anruf endlich annehmen und glaubte doch tatsächlich darin seine Stimme wiedererkannt zu haben. Ist er das? Sicher war ich mir nicht, ein Fahrgast versperrte mir die Sicht auf seinen Platz. Wahrscheinlich bildete ich es mir nur ein, schließlich war er bis eben noch Teil meiner Gedankenwelt, dachte ich, da liegt es nicht fern diese Wahrnehmung falsch zu verknüpfen. Außerdem, ich bemerkte es erst jetzt, umklammerte ich immer noch „Katzenzungen“. Meine Tante bewahrte einmal eine Unmenge an verschiedenen Katzensticker in einer Katzenzungen-Schachtel auf. Sie hatte sie allesamt aus Zeitschriften ausgeschnitten. Unvorstellbar, wie viel Zeit und Mühe es sie damals gekostet haben musste. Als Kind bekam ich die Möbel ihres alten Jugendzimmers und fand diese Schachtel dann irgendwann im Schrank über dem Schreibtisch. Ein wahrer Schatz für die kleine Katzenfanatikerin, die ich einst mal war. Ein leichtes Schmunzeln fuhr mir über die Lippen. Es war unübersehbar, ich konnte es nicht unterdrücken. Hoffentlich beobachtete mich keiner in diesem Moment, wobei, meinerwegen konnten die Leute doch ruhig sehen, dass ich an was Schönes dachte. An diese kleinen Details in meinem Leben erinnerte ich mich gern, vor allem an solche, die sonst keine Relevanz finden und leicht in Vergessenheit geraten.

Der Zug erreichte Mannheim, währenddessen blätterte ich durch das Buch. Auf Seite achtundsechzig tauchte ich zurück in das Geschehen und las Noras Sicht der Dinge, als wären es meine eigenen Worte, die still und leise in meinem Kopf dahinflossen. Sie verbindet eine langjährige Freundschaft zu Dodo und Claire, genauso wie mich und meine beiden Freundinnen. Zwar sind es noch keine fünfundzwanzig Jahre, jedoch sehr reale sechzehn. Es ist nun schon ein paar Tage her, da hatte ich den Klappentext nur kurz überflogen, umgeben von unzähliger Literatur in diesem winzigen Kämmerchen auf Etage zwei, und ich gebe zu, das einzig und allein diese Gemeinsamkeit, abgesehen vom Preis und des Verlags, mich dazu verleitete den Roman zu kaufen. Für eine Weile versank ich in das fiktive Konstrukt einer bizarren Beziehung, ja allmählich vergaß ich sogar die Zeit, so sehr war ich darin vertieft. Irgendwann, es wurde immer abstruser, packte ich das Buch weg, lehnte mich an die Fensterscheibe und hörte Musik.

Ich träumte wieder vor mich hin, dabei nahm ich die Ansage des Zugpersonals erst wahr, als schon von Anschlusszügen die Rede war. In Kürze würden wir den Hauptbahnhof in Stuttgart erreichen, meine Endstation. Ich wickelte mir den Schal um den Hals, der sich angenehm warm anfühlte. Kein Wunder, schließlich saß ich zwei Stunden auf ihm. Dann eruierte ich den Weg zu meinem Koffer. Es hatte noch ein paar Minuten Zeit, so lange würde ich noch auf meinem Platz bleiben, aber ich entschied mich spontan um, huschte an den Fahrgästen vorbei und stellte mich samt Gepäck vor die Ausgangstür. Mir folgte jemand und wer sonst konnte es sein als mein flüchtiger Bekannter aus Marokko. Er grinste mich an, freundlich wie eh und je. Es herrschte Stille, eine unangenehme Stille. Ich war unter Druck, was sollte ich sagen? Ich wollte nicht reden, doch es fühlte sich so an, als müsste ich. Gottseidank, der Zug kam endlich zum Stehen. Wo Gleis 6 sei, fragte er mich, nachdem wir auf dem Bahnsteig standen, zusammengedrängt und umgeben von lebendiger Hektik und Hast. Meine Güte, dachte ich, er muss wirklich hilflos sein, dass er so an mir klammerte. Oder er hatte andere Absichten, wer weiß, aber davon möchte ich nicht ausgehen wollen. Da drüben rechts, da ist Gleis 6, ich zeigte in die jeweilige Richtung. Es nützte nicht viel. Entweder verstand er es wirklich nicht oder er stellte sich dumm. Tatsächlich tippte ich auf Letzteres. Jedenfalls lief ich ihm voraus zur Bahnhofshalle. Er lief mir hinterher bis ich stehen blieb. Dort rechts, da müsse er hin, auf dieser Seite sei sein Gleis 6, und betonte gleich, dass ich allerdings nach links müsse. Ja, ich machte kurzen Prozess. Er schien immer noch unsicher, bedankte sich dennoch, dann wünschte ich ihm einen schönen Abend und erst später überlegte ich, ob ein ‚Frohe Weihnachten‘ ihm gegenüber unangebracht gewesen wäre. Aber was soll’s, es war passé, unsere Wege trennten sich und ich war glücklich, ja sehr sogar, denn es war der 24. Dezember.